Ich hoffe auf einen der gelegentlichen Parkplätze, um mein Zelt aufzuschlagen.
Aber sie sind alle hoffnungslos verdreckt.
Hier ruhig zu schlafen kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Die M18 quert ein niedriges Hügelband –
eine kurze Unterbrechung der Sümpfe links und rechts der Straße.
Hier finde ich endlich das, wonach ich schon seit Stunden Ausschau halte.
Eine zarte Fahrspur windet sich seitwärts und verschwindet zwischen Bäumen.
Ich folge ihr etwa dreihundert Meter. Weiter geht es nicht.
Aber am Ende ist – zwischen zerrosteten Konservendosen und bemoosten Plastik-Kanistern –
ein ausreichend großer ebener Platz.
Ich beginne, das Innenzelt aufzustellen.
Der Schweiß rinnt mir in die Augen,
denn ich mag trotz der 20°C weder den Helm absetzen noch die Handschuhe ausziehen,
geschweige denn den Reißverschluss der Jacke öffnen.
Wenige Sekunden nach dem Absteigen bin ich von einem Schwarm aggressiv surrender Pferdebremsen und einer Mückenwolke umgeben.
Ich öffne den Reißverschluss des Zeltes einen winzigen Spalt breit,
werfe Iso-Matte, Schlafsack, Wasserflasche und meinen letzten Kanten Brot hinein,
bevor ich mich selbst hindurchzwänge
und mich beeile, hinter mir zuzuzippen.
Abend-Toilette fällt heute aus.
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Bestens geschlafen!
Ich lasse mir Zeit beim Munterwerden.
Irgendwas ist komisch.
Es dauert eine Weile, bis mir klar wird:
Es ist kein Vogelgezwitscher zu hören, wie es in unseren Breiten allgegenwärtig ist.
Ich rolle Isomatte und Schlafsack zusammen und zwänge mich in die komplette Motorrad-Kluft, bevor ich am Zelt-Zipper ziehe.
Das morgendliche PiPi muss warten – erst muss ich den Bremsenschwarm abgehängt haben.
Die Landschaft wird bergiger, die Sümpfe weichen breiten Flüssen und riesigen Seen.
Am Horizont tauchen die ersten Ausläufer der Chibiny-Berge auf.
Mein Hobby-Geologen-Herz schlägt laut und hoch.
Hier, in der ältesten Steinformation des Eurasischen Doppelkontinents, ist in 20km Tiefe eine riesige Magmablase steckengeblieben.
Das ist knapp eine halbe Milliarde Jahre her.
Das Magma hat erst das umgebende Gestein aufgeschmolzen, ist dann aber langsam – sehr sehr langsam erstarrt und hat dabei eine Unmenge verschiedener, zum Teil seltener und außergewöhnlich großer
Mineralien auskristallisiert.
Heute sind die Chibinen bekannt als der weltweit größte Alkali-Pluton, der durch Erosion an die Erdoberfläche gelangt ist.
Im Westen ist das Gebirge umringt von jungen Städten.
Sie tragen Namen wie Apatity und Titan, hier gibt es Bergwerke für Eisenerz, Kupfer, Schmucksteine....
Im Herzen dieser Berge aber gibt es ein kleines Sporthotel.
Mein Navi kennt die Koordinaten.
Ein Weg wird sich finden.
Noch 20km bis zum Hotel.
Von dort aus noch mal 10km bis in die Frostschutt-Region.
Das Chibinygebirge ist bewacht:
Zehn Kilometer südlich von hier hockt die Stadt Kirowsk breit im Tal.
Wer in die Berge will, kommt nicht an ihr vorbei.
Die Fahrt durch Kirowsk ist ein olfaktorisches Erlebnis,
das Erinnerungen weckt: Aromatische Kohlenwasserstoffe.
So und ähnlich hat es vor der Wende im Halleschen Chemie-Dreieck gerochen,
wenn mal wieder etwas Hui entfleucht war.
Das Thermometer zeigt 25°C.
Durch die Straßen rollen schwere Kipper.
Als ich die letzten Wohnblocks passiert hatte, erwartete mich ein Tunnel aus Staub,
durch den eine gut geschotterte Piste führte.
Ich reihte mich ein in die Karawane der leeren Laster,
die mit beängstigendem Tempo in Richtung der Berge schepperten.
Sand knirscht mir zwischen den Zähnen.
Die entgegenkommenden Kipper waren schwer beladen, aber nicht weniger schnell.
Irgendwann realisierte ich, dass ich, der Piste folgend, in einem Nebental gelandet war.
Tagebau.
Sackgasse.
Ich wende und suche nach der verpassten Abzweigung.
Eine junge Frau in Hi-Tec- Sportkleidung kommt mir auf einem Mountain-Bike entgegen.
Sie zeigt auf einen fröhlich über Steine springenden Fluss, der in einer dicken Betonröhre unter der Piste verschwindet.
„Du willst bestimmt da lang.
Das ist der Weg!“
Sie schultert ihr Rad und balanciert entlang des Ufers Richtung Norden davon.
Das Wasser ist nicht tief, aber das Geröll hält, was seine Bezeichnung verspricht:
Es rollt.
Jeder Schritt setzt eine kleine Lawine in Gang.
Das Hinterrad gräbt sich erst einige Zentimeter ein,
bevor es Vortrieb entwickelt und das Vorderrad durch den Kies schiebt.
Will ich da wirklich durch?
Offensichtlich gibt es keinen anderen Weg .
Und offensichtlich haben andere es auch geschafft.
Also los.
Nicht zu langsam werden!
Mit zwei Fingern an der Kupplung pflüge ich durch das Wasser.
Hin und wieder bringt ein größerer Stein das Vorderrad aus der Bahn,
aber ich kann es immer ausbalancieren.
Ich merke, wie sich meine Anspannung allmählich löst
Mit jedem Meter fahre ich unverkrampfter, lockerer.
Es geht tatsächlich.
Nur - wenn möglich - nicht anhalten.
Jedes Anfahren birgt das Risiko, dass das Hinterrad im Kies versinkt.
Nach einigen hundert Metern weitet sich das Tal,
und neben dem Flussbett wird eine Piste sichtbar.
Jetzt geht es zügiger voran.
Immer wieder mal quert die Piste den Fluss oder verläuft ein Stück weit darin entlang.
Zwischendurch gibt es auch Abschnitte, die zu ausgedehnten Drift-Orgien einladen.
In einer der tiefen Pfützen kurz vor dem Hotel schaffe ich es doch noch,
stecken zu bleiben und die AT auf den Koffern zu parken.
Dank Gore-Tex-Membran hatte ich bis hierher trockene Füße behalten.
Dank Gore-Tex-Membran bleibt das Wasser ab hier zuverlässig in den Stiefeln.
Trotz einiger Gäste bietet das Hotel keine Gastronomie.
Der erhoffte Kaffee bleibt also aus.
Das Gelände wird steiler.
Auf der Suche nach aufgelassenen Steinbrüchen folge ich Wegen und Pfaden in die höheren Regionen.
Ich werde nicht fündig.
Aber ich halte immer wieder an, genieße die Landschaft,
die Weite des Himmels, das Licht des Nordens.
Und ich genieße es, wie leichtfüßig sich die AT als Kletterziege und Packesel bewährt.
Nach zwei Stunden mache ich mich auf den Rückweg,
denn ich habe heute noch ein anderes Ziel:
Die Ufer des Umbosero-Sees.
Aber erst mal zurück nach Kirowsk.
Mir entgegen kommt ein Uralt- Van.
Diese Kisten kenne ich noch aus meiner Jugend.
Als Tramper bin ich in ihnen,
eingeklemmt zwischen Machorka rauchenden Rotarmisten,
durch die DDR gereist.
Allrad.
Untersetzer.
Drei Differentialsperren.
Der hat mit dem Geröll weit weniger Probleme als ich, und gibt mir gute Ratschläge.
„Fahr hier raus und neben dem Fluss lang!“
Hätte ich mal nicht auf ihn gehört.
Das Vorderrad kommt die kleine Steigung nicht hoch, das Hinterrad gräbt sich ein.
Feierabend!
Just in dem Moment kommt ein Wanderer des Weges.
Er zögert keine Sekunde.
Ohne Notiz davon zu nehmen, dass sich seine Bergstiefel mit Wasser füllen, hievt er gemeinsam mit mir und dem Fahrer des Vans die AT aus dem Kies.